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AutorenbildHannah

August-Oktober

(Beitrag von 2020)


Neben meiner Raserei und der darauf folgenden Leere in mir entscheide ich mich damals für den Rückzug. Ich isoliere mich.

Diese Zeit ist für mich sehr schwer. Ich mache alle Dinge mit mir selbst aus und versuche meine Gefühle vor der Außenwelt zurückzuhalten, weil ich fast immer mit Ablehnung konfrontiert werde. Ich warte ständig darauf, dass jemand kommt und mir da raus hilft, aber es kommt niemand. Und wenn es doch jemand versucht, dann kann ich diese Hilfe nicht annehmen. Ich bin stur, denn es ist eigentlich viel einfacher in diesem Modus vor mich hinzuwabern. Was zu ändern wäre viel schwerer.

Wenn mich jemand fragen würde, was wohl der beste Umgang mit so einer Situation ist, dann hätte ich keine Ahnung was ich antworten sollte. Ich weiß nicht was richtig und was falsch war und ob das überhaupt eine Rolle spielt. Ich weiß nicht ob und was ich oder andere hätten besser machen können.

Ich glaube das Verarbeiten und das Heilen sind ein Prozess, der lange dauert - bei den einen mehr, bei den anderen weniger.

Bei mir hat es 5 Jahre gedauert bis ich halbwegs über den Berg war, bis ich sagen konnte, dass es okay ist. Und doch ist es in Relation zu meiner Lebenszeit, zu dem Ausmaß des Verlustes nur ein Atemzug gewesen. Und das war etwas, dass ich mir damals nie zugestehen konnte und andere schon gar nicht - nämlich Zeit. Was ich gebraucht habe war Zeit.

Was ich nie wollte, war diese Situation und meine Gefühle zu verdrängen, ich wollte nicht, dass es mich von innen heraus auf Dauer zerfrisst. Ich wollte meinen Gefühlen und Emotionen den Platz einräumen, den sie brauchen. Dieser vermeintlich destruktive Weg war meiner Meinung nach der Beste. Einfach war das sicher nicht, es war furchtbar, es war ganz ehrlich die Hölle.. und es hat Narben hinterlassen, mit denen ich noch heute zu kämpfen habe, es hat mich auf jeden Fall verändert. Aber trotzdem bin ich froh, dass ich mich dafür entschieden habe. Ich habe all diese furchtbaren Dinge gefühlt, den ganzen Dreck. Ich hab es gehasst. Aber ich habe das Gefühl, dass ich es dadurch verarbeiten konnte, so gut wie das eben geht.

Mit der Zeit habe ich angefangen mich mit der ganzen Thematik intensiv zu beschäftigen. Ich habe recherchiert und mich mit anderen Menschen, die ähnliches erlebt haben, über die sozialen Medien in Verbindung gesetzt. Ich habe angefangen über meine Gefühle öffentlich zu schreiben.

Meine Traurigkeit beginne ich damals als einen Freund zu betrachten, nicht als etwas Schlechtes. Ich beginne meinen Emotionen Platz einzuräumen, sie da sein zu lassen und ich versuche sie als etwas Gutes zu betrachten. Ich versuche behutsam mit ihnen und mit mir selbst umzugehen. Ich empfinde meine Angst langsam als einen Freund, der mich ermahnt, wenn ich zu viel verlange, mir zu viel erhoffe. Ich bin im Ruhemodus. Ich werde geduldiger mit mir selbst.

Es gibt viele Dinge, die mir in dieser Zeit helfen und Trost spenden. Ich beginne zu meditieren, ich mache Yoga, gehe viel raus in die Natur und fange an zu Illustrieren. Ich beschäftige mich mit dem Thema Dankbarkeit und Selbstreflexion.

Im Sommer 2019 entscheide ich mich schließlich eine Gesprächstherapie zu beginnen.

Ich tue es aus eigener Entscheidung heraus. Ich fühle mich dem zum ersten Mal gewachsen und hoffe dadurch die Erfahrungen der letzten Jahre und den Verlust aufarbeiten zu können. Ich habe das Gefühl aufräumen zu wollen.

Im Nachhinein kann ich sagen, dass es ganz ehrlich eine meiner besten Entscheidungen überhaupt war. Auch heute schaue ich darauf noch mit einem guten Gefühl zurück. Zu Beginn schon war ich mir sicher, dass ich darüber schreiben würde. Ich war gewillt meine Erfahrungen während der Therapie mit anderen zu teilen, aber diese Entscheidung habe ich sehr schnell wieder verworfen, denn es war oft sehr hart und in dieser Zeit habe ich mich aus den sozialen Medien sehr stark zurückgezogen. Aber ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich eine Therapie mache. - Wieso auch!? Wenn wir ehrlich sind könnte jeder von uns mal bei sich selbst aufräumen. So etwas zu einem Tabu zu machen, macht es uns allen doch nur schwerer.


Ich kann mich noch sehr gut an meine erste Sitzung erinnern.

Im Wartezimmer komme ich mir blöd vor, weil ich denke, dass ich hier doch eigentlich fehl am Platz bin. Ich bin der Meinung, dass ich Menschen mit ‚richtigen‘ Problemen den Platz wegnehme.

Als mich die Therapeutin aufruft bin ich nervös und ich fühle mich beobachtet, als könnte sie mich mit ihrem Blick einfach durchleuchten, meine Geheimnisse und meine Ängste herauslesen, aus meiner Gestik und Mimik Dinge herauslesen, die ich lieber verstecken möchte.

Im Sprechzimmer setze ich mich auf die Ledercouch und fühle mich unbehaglich. Ich weiß nicht wirklich wie ich anfangen soll. Also beginne ich einfach bei den Fakten.

Ich erzähle ihr, dass ich 2014 meine Schwester verloren habe und wie es mir damit ergangen ist. Im Laufe des Gesprächs erzähle ich ihr wie genau meine Schwester gestorben ist, wie die letzten Tage ihres Lebens für mich waren. Und dann stellt sie mir eine Frage, die mich hart trifft, denn bisher hat mir diese Frage noch nie jemand gestellt. Sie fragt mich, ob meine Schwester so gestorben ist, wie ich es mir insgeheim vorgestellt habe und ob es so passiert ist, wie ich es erwartet hatte. In dem Moment wollen all die Gefühle, die ich in den letzten Jahren gefühlt habe, aus mir herausbrechen - ich versuche sie zurückzuhalten. Denn tatsächlich habe ich mir hunderte Male vorgestellt, wie unser Abschied aussehen würde. So oft. Und in meiner Vorstellung ist es immer ganz anders abgelaufen. Die Bilder in meiner Vorstellung kollidieren mit der Tatsache, dass wir gar keinen Abschied hatten. Ich konnte mich von meiner Schwester nicht verabschieden.

Ich würde der Therapeutin gerne erzählen, wie ich es mir eigentlich vorgestellt habe. Aber ich kann nicht sprechen, denn ich versuche mich zusammenzureißen und diese Flut an Emotionen nicht ausbrechen zu lassen. Ich weine stille Tränen vor dieser wildfremden Person gegenüber von mir. Die Therapeutin wartet geduldig ab und reicht mir ein Taschentuch. Ich kann gefühlt einen ewig langen Moment überhaupt nichts tun und versuche mich wieder zu fangen. In mir wütet dieses Gefühl, das ich nicht wirklich benennen kann und ich warte nur bis es sich wieder legt. Ich starre in den versteckten Garten, der hinter der Praxis verborgen liegt. Er hat irgendwie etwas beruhigendes.

Irgendwann bekomme ich wieder einen Ton heraus und ich erzähle ihr von den Bildern in meinem Kopf, den Bildern aus der Klinik - obwohl ich überhaupt nicht dabei gewesen bin. Sie hört mir lange zu, dann nickt sie und sagt mir klar heraus, dass ich traumatisiert bin.

Was ich in dem Moment empfinde ist folgendes: Dankbarkeit. Ich bin dankbar, dass endlich jemand meiner Situation einen Namen gibt. Denn genau so fühlt es sich auch an - nach einem Trauma. Und ich bin wütend, ich bin so so wütend.

Ich weiß noch, nach der ersten Sitzung habe ich mich gefühlt wie ein Wrack, als wäre ich ein komplett kaputter Mensch. Zu diesem Zeitpunkt war das wahrscheinlich auch so.


In der zweiten Sitzung sagt mir die Therapeutin, dass ich eine Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline habe. Das schockt mich und so wirklich kann ich mit dem Begriff nichts anfangen. Borderline. Klasse.

Zuhause google ich den Begriff natürlich sofort und zu meiner Verblüffung gibt es viele Punkte, in denen ich mich wiederfinde.


Massive Ängste vor dem Alleinsein und instabilen Beziehungen, Stimmungs- und Gefühlsschwankungen, extreme innerliche Anspannung, die als unerträglich und peinigend erlebt wird, ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken (z. B. Schwanken zwischen Idealisierung und Abwertung von Mitmenschen), anhaltende Wut und Aggressivität. Und und und..

Doch was ich nie akzeptieren wollte und auch nie akzeptiert habe ist, dass ich diese Diagnose BIN. Der Begriff Borderline beschreibt mich nicht als Mensch oder Person, es beschreibt nicht mein Sein und ich akzeptiere auch nicht, dass andere das glauben. Ich bin nur genau so wie ich mich fühle, ich bin keine Schublade. Trotzdem lerne ich während der Therapie, dass ich an diesen Punkten, in denen ich mich wiederfinde arbeiten muss. Ich merke, dass das sehr viel Zeit braucht und noch heute arbeite ich daran, ich denke, dass das eine Lebensaufgabe ist.


Im Verlauf der Therapie spricht mich meine Therapeutin immer öfter auf mein Gewicht an und schließlich stellt sie die Diagnose Magersucht. DAS ist etwas, das ich damals absolut absurd finde. Heute sehe ich das anders.

Ich wiege damals 44 Kilo bei 1,60m. Meine Therapeutin fragt mich ständig nach meinem Essverhalten und nach meinem Gewicht, ich hasse das. Ich versuche mehr zu essen, aber ich stehe nicht wirklich dahinter, weil ich diese Diagnose noch weniger akzeptieren will als die andere. Es dauert lange, bis ich merke, dass tatsächlich etwas falsch läuft. Ich merke mit der Zeit, dass ich oft hungere. Ich esse einfach nichts. Es ist eine Art Selbstbestrafung. Aber eigentlich esse ich doch gerne, denk ich mir. Deshalb kann ich es selbst irgendwie nicht verstehen.

Mir wird bewusst, dass ich mir mit der Zeit angewöhnt habe dadurch eine Art Kontrolle zu gewinnen, indem ich nichts esse. Es ist schwer zu beschreiben.

Es ist hart mein Essverhalten umzustellen und es ist noch schwerer damit umzugehen, weil auch mein Umfeld es für total absurd hält, dass ich magersüchtig sein könnte. Und ein weiteres Mal fühle ich mich mit mir selbst alleine. Das macht es nicht leichter.

Plötzlich macht es mich wütend, wenn Menschen mich auf mein Gewicht ansprechen. Ich kann mir eigentlich täglich Kommentare dazu anhören und natürlich beeinflusst das meine Empfindung und meinen eigenen Wert, den ich mir gebe. Bodyshaming gibt es sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung. Der Begriff bekommt für mich damals einen neuen Wert. Heute gehe ich anders damit um und lächle es entweder müde weg oder spreche es ganz einfach an, weil die Menschen meistens garnicht merken, dass sie dich verurteilen oder ihnen ist nicht bewusst, dass sie dich damit vielleicht im Kern treffen.

Es dauert damals lange, aber irgendwann schaffe ich etwas an Gewicht zuzulegen und mehr auf mich zu achten.


Es ist oft wirklich seltsam über meine Gefühle in den Sitzungen zu sprechen. Aber insgeheim bin ich froh, dass ich an diesem Ort endlich alles rauslassen kann, ich darf hier einfach die Dinge laut aussprechen, die ich mich sonst nicht traue zu sagen.

Ich würde nicht sagen, dass die Therapie einfach war. Manchmal war es hart und oft hatte ich keine Lust hinzugehen. Nicht selten ging es mir nach den Sitzungen richtig schlecht und ich habe viele Male danach im Auto gesessen und geheult. Aber es gab eben auch andere Tage, an denen ich aus einer Sitzung stolz und befreit herausgegangen bin. In mir tat sich langsam Hoffnung auf, ein neuer Optimismus.

In den Sitzungen ging es auch nicht immer um meine Schwester, aber ich habe das Gefühl, dass ich ihr dadurch so viel näher gekommen bin. Ich habe angefangen sie besser zu verstehen. Ich weiß nicht wie, aber ich habe angefangen sie loszulassen. Das hat sehr oft weh getan und ging mit einem schlechten Gewissen einher. Aber ich habe ganz deutlich gespürt, dass ich auf dem Weg bin mich wieder selbst zu finden.

Mir wurde langsam bewusst, dass viel Dinge, die mich belasten und verletzen ihre Ursache bei meiner eigenen Empfindung haben.

Es ist doch kein Wunder, dass mir niemand zuhört, wenn ich das nichtmal selbst tue. Wie kann ich verlangen, dass jemand anderes für mein Glück verantwortlich ist, für meinen Seelenfrieden? In erster Linie sollte die Person, die dich als etwas Besonderes und liebenswert erachtet, du selbst sein. Mit dieser Einstellung ändert sich in meinem Leben so einiges.

Es geht hier, wie Kea von Garnier immer so schön sagt, nicht darum eine Held*innen-Geschichte zu erzählen. Es geht nicht um das Tief und die Heilung und das Durchstehen und das darauffolgende Glück. Es geht darum einfach darüber zu sprechen wie es war, es geht darum offen mit schwierigen Themen umzugehen - wir schneiden uns ins eigene Fleisch, wenn wir diese Dinge totschweigen.

Es war so oft so furchtbar damals, aber es gab auch in dieser Zeit trotzdem viele schöne Momente. Ich habe das Leben nicht gehasst, sondern nur meine Situation, die Tatsache, dass meine Schwester und somit meine Bezugsperson gestorben war, unwiderruflich verschwunden aus meinem Leben.

Trotzdem habe ich auch in diesem Lebensabschnitt gelernt, dass nicht alles nur schlecht ist. Uns widerfahren schlechte Dinge ja, und oft fühlt es sich scheiße und unfair an, das ist okay, es darf sich so anfühlen. Aber wir dürfen uns davon nicht unsere ganze Energie nehmen lassen, unsere Freude.

In den letzten 6 Jahren habe ich mehr über mich und mein Leben, meine Empfindungen gelernt, als in den 22 Jahren davor.

Aber auch heute gibt es noch Momente, in denen ich mich schlecht fühle. Sie sind sehr selten und weniger intensiv geworden, aber trotzdem sind sie manchmal da. Und das ist auch okay. ich habe gelernt damit umzugehen.

Auch heute arbeite ich konstant an meinem Essverhalten und erwische mich manchmal dabei, dass ich nachlässig werde. Aber ich habe mittlerweile einen anderen Bezug dazu und ein anderes Empfinden. Ich bin deutlich nachsichtiger und behutsamer mit mir selbst. Ich habe gelernt, dass meine Wut, die ich manchmal in mir trage okay ist, dass ich sie auf meinem Weg rauslassen muss und sie nicht beiseite schieben sollte.

Noch immer fällt es mir schwer mich anderen Menschen zu öffnen, ich brauche sehr lange, um die Mauer um mich herum fallen zu lassen - aus Angst natürlich, dass das, was hinter dieser Mauer versteckt ist, auf Ablehnung stößt.

Ich kritisiere mich sehr oft selbst und meistens gehe ich sehr hart mit mir selbst ins Gericht und versuche immer das Optimum aus mir herauszuholen. In mir ist noch immer der Gedanke verwurzelt, dass ich nur dann gut genug und liebenswert bin, wenn ich alles richtig mache. Der Unterschied ist nur, dass ich das heute weiß und an meiner Einstellung arbeiten kann.

Ich habe gelernt mich selbst wieder wertzuschätzen, dass ich sein kann, wie ich bin. Ich versuche Menschen weniger zu verurteilen oder zu idealisieren, weil mir klar geworden ist, dass so gut wie jeder Mensch, dem ich begegne, sein eigenes Päckchen zu tragen hat und dass auch diese Menschen ihr Leben so leben sollen, wie sie es für richtig halten. Ob ich das gut finde oder nicht, ist dabei völlig egal. Ich habe gelernt mehr auf mich und meine Bedürfnisse zu achten, unabhängig davon, was andere davon halten. Trotzdem ist es immer ein fortlaufender Prozess.

Ich gehe heute weniger blauäugig durchs Leben - zugegeben, manchmal wünsche ich mir das zurück, aber dafür bin ich oft sehr dankbar für sehr viele Dinge.

Mittlerweile weiß ich, dass alle Emotionen ihren Raum brauchen.

Ich weiß, dass ich meine Energie immer in mir trage, meine Stärke. Manchmal kann ich sie nur nicht mehr richtig spüren, aber sie ist nie weg - genauso wie meine Schwester.






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