(Beitrag von 2020)
Nachdem ich meine Schwester damals das letzte Mal gesehen und gesprochen habe, hatte sie noch eine Woche zu leben. Trotzdem war sie für mich in dieser Woche nicht mehr greifbar, ein Geist.
Montag
Es ist ein ganz normaler Montagmorgen. Meine Schwester und ihr Lebensgefährte waren am Tag zuvor in die Spezialklinik gefahren, weil es Claire zunehmend schlechter ging. Meine Eltern waren in der Früh ebenfalls hingefahren - das war ungewöhnlich, aber trotzdem war sich jeder von uns sicher, dass meine Schwester am Wochenende wieder zuhause sein würde. Es war irgendwie Nebensache, fast schon normal.
Ich sitze also auf der Arbeit am Schreibtisch als mein Handy klingelt. Es ist Papa. Ich nehme ab. Ich frage wie es Claire geht und was es Neues gibt. Dann sagt mir Papa, dass es nicht so gut ausschaut. Ich runzle die Stirn und bin kurz verunsichert. Okay. Er sagt das ganz neutral, ein bisschen verhalten vielleicht. Er redet um den heißen Brei. Dann kann ich mich nur noch an einen einzigen Satz dieses Telefonats erinnern. Er sagt zu mir, dass sie nicht wüssten, ob Claire nochmal nach Hause kommt. Ich höre auf mit dem Stuhl zu wippen. Ich bin perplex. Wir wechseln noch kurz Worte, aber eigentlich kann ich nicht mehr aufnehmen, was er alles zu mir sagt. In meinem Kopf hallt noch immer dieser Satz. Wird legen auf. Ich sitze auf meinem Stuhl. Mein Kopf kann die letzten Minuten dieses Gespräches nicht verarbeiten. Ich sitze ganz ruhig da und kann nicht begreifen, was mir Papa gerade gesagt hat.
Also arbeite ich weiter.
Während ich im Aufzug stehe, während ich durch den Flur laufe, während ich am PC sitze, während ich mich durch die Ordner wühle, immer wieder schwirrt dieser Satz in meinem Kopf umher. Aber in mir tut sich nichts, es ist als ob jemand den Stecker gezogen hätte. Es kommt einfach nicht bei mir an. Den Morgen über verläuft eigentlich alles ganz normal, ich bin einfach nur etwas still und in mich gekehrt. Aber je mehr ich über Papas Aussage nachdenke, desto mehr schnürt sich mir allmählich der Magen zu.
Irgendwann kommt mein Vorgesetzter ins Büro. Ich bin abwesend. In meinem Hinterkopf fangen langsam an sich die Rädchen zu drehen. Irgendwann schaut er mich an und ich sehe es schon an seinem Blick. Er fragt mich, warum ich so still bin. Für einen kurzen Moment überlege ich mich rauszureden und die Frage abzutun. Aber wenn ich ehrlich bin, geht es mir gerade nicht so gut und eigentlich möchte ich das, was gerade beginnt in mir vorzugehen mit irgendjemandem teilen. Mein Kopf bereitet sich darauf vor den Satz auszusprechen, den ein paar Stunden zuvor Papa zu mir gesagt hat. Doch ich hab plötzlich diesen riesigen, fetten Kloß im Hals. Mein Gehirn sendet das Kommando die Worte zu formen, aber ich kann sie kaum aussprechen. Ich muss meinen Kollegen sagen, dass meine Schwester vielleicht nicht mehr nach Hause kommt. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich kämpfe mit mir, weil ich gerade beginne zu begreifen und ich tief in mir weiß, dass sobald ich die Worte ausspreche alles real wird. Dann spreche ich es aus und während ich das tue, wird mir die Tragweite dessen bewusst, was der Satz eigentlich bedeutet. Fuck. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ach du scheiße. Ich fange an zu zittern und setze meinen Ellenbogen auf dem Schreibtisch auf, halte mir die Hand vor den Mund und versuche die Fassung zu bewahren. Aber das ist schlichtweg nicht möglich. Ich fange an zu schluchzen, stütze mich ab und halte mir die Hände vor die Stirn, damit mir die andern das Elend nicht ansehen. Ich will einfach nur, dass mich der Boden verschluckt.
Dienstag
Den Rest der Woche bleiben meine Eltern bei Claire in der Klinik. Sie ist instabil. Ich habe erfahren, dass meine Schwester bereits zweimal wiederbelebt werden musste, sie war also schon zweimal tot. Das ist heftig. Die Ärzte sagen es grenzt an ein Wunder, dass sie überhaupt nochmal zurückgekommen ist. Papa erzählt mir, dass sie aufgewacht ist und lässig gefragt hat was los ist, was passiert sei, dass sie gar kein Licht gesehen und sie total Lust auf eine Coke hätte. In dem Moment muss ich mit Tränen in den Augen kurz lachen, weil das typisch Claire ist.
Was für eine verfluchte Scheiße.
Die Organe meiner Schwester beginnen zu versagen. Ihre Lunge gibt langsam den Geist auf und ihr Herz ist zu schwach, um sie am Leben zu halten - sie muss an die ECMO, eine Maschine, die den Sauerstoffaustausch im Blut übernimmt. Drei bis fünf Liter Blut werden pro Minute durch einen Schlauch, der in ihrem Bein steckt aus ihrem Körper herausgeleitet, mit Sauerstoff angereichert und wieder zurück in ihren Körper gepumpt. Diesen Zustand wird ihr Körper jedoch nicht ewig aushalten. Aber meine Eltern sagen, dass sie befreit wirkt, weil sie dadurch das erste Mal in ihrem Leben richtig Luft bekommt.
Am Mittag kommt meine älteste Schwester zu Besuch. Sie fragt mich irgendwann, ob ich denke, dass Claire wirklich sterben könnte. Ich denke darüber nach, wäge die Fakten ab und sage, dass es schon echt nicht so gut ausschaut. Doch mein Gehirn tut die beschissene Wahrheit einfach ab und nach wie vor ist es für mich einfach nicht möglich und nachvollziehbar. Noch vor vier Tagen hat Claire vor mir gestanden, mit mir erzählt und jetzt war sie schon zweimal tot!? Unlogisch.
Meine älteste Schwester schaut mich plötzlich komisch an und sagt mir, dass sie mir noch was erzählen muss. Sie glaubt, dass sie schwanger ist. Sie holt einen Test aus der Tasche und geht zur Toilette. 3 Minuten später kommt sie zurück. Positiv. Das überfordert mich. Es überfordert uns beide. Wir sind verwirrt. Zu viele unterschiedliche Emotionen. Was zur Hölle passiert hier eigentlich gerade?!
Mittwoch
Die Tage verbringe ich im Haus meiner Eltern, um auf unseren Hund aufzupassen. Die meiste Zeit sind wir im Ungewissen, meine Eltern rufen ab und zu an. Ich telefoniere mit meiner Mutter und sie sagt mir, dass Claire nach Norddeutschland verlegt werden muss, weil sie jetzt definitiv so schnell wie möglich eine neue Lunge und ein neues Herz benötigt. Es ist jetzt ein Rennen gegen die Zeit, weil die Maschine, die sie aktuell noch am Leben hält das nicht ewig tun kann. Zum ersten Mal bekomme ich Panik. Zum ersten Mal in meinem Leben bekomme ich es richtig mit der Angst zu tun. Ich sage Mama, dass ich mit Claire reden will, aber Mama sagt, sie sei zu schwach. Ich sage ihr, dass ich in die Klinik fahren möchte, am besten schon am nächsten Tag. Aber Mama sagt, dass sie mit Claire darüber gesprochen haben und dass meine Schwester nicht möchte, dass wir sie so sehen. Das ist hart und ich fange an zu heulen. Im Nachhinein weiß ich nicht, ob es gut oder schlecht war, dass ich meine Schwester nicht mehr gesehen habe. Das Thema hat mich sehr lange beschäftigt. Ich denke sie wusste, was passieren wird und sie wollte, dass wir sie so in Erinnerung behalten wie sie war - stark, lebensfroh und witzig, nicht krank, schwach und im Sterben liegend. Es war ihre Entscheidung, das macht es irgendwie erträglich.
Mama und ich legen auf. Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen und starre aus dem Fenster. Mein Sichtbild verschwimmt. Ich bin alleine und über mir bricht gerade die Welt zusammen. Ich laufe planlos durch den Raum, klammere meine Arme um mich selbst und wimmere vor mich hin. Ich überlege fieberhaft wen ich anrufen könnte. Aber es gibt eigentlich niemanden, mit dem ich jetzt sprechen will. Ich laufe wieder zur Fensterfront, lehne meinen Kopf gegen das kalte Glas und starre auf die Baumkronen, die draußen langsam im Wind schwingen. Dieses scheiß beschissene Leben! Was zur Hölle soll ich denn jetzt tun!? Ich schluchze und sehe zu wie dadurch die Scheibe beschlägt. Es ist Verzweiflung, denn ich weiß, dass ich nichts tun kann, außer es einfach versuchen zu ertragen - das ist das furchtbarste Gefühl auf der Welt. Die meiste Zeit unseres Lebens gehen wir naiv und völlig selbstverständlich durch unser Leben. Wenn man Glück hat ist das für immer so. Aber bei den meisten kommt irgendwann der Moment, in dem man auf die Probe gestellt wird, in dem es dir plötzlich den Boden unter den Füßen wegzieht. Das war mein Moment. Ich laufe weiter durch den Raum und mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich explodieren. Es hämmert und hämmert und hämmert. Ich laufe in die Mitte des Raumes und lass mich auf dem Teppich auf die Knie fallen. Ich will einfach nur zu meiner Schwester. Noch nie in meinem Leben hab ich mich so alleine und hilflos gefühlt. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und lass’ die ganze Scheiße einfach aus mir raus. Ich starre ins Leere und ertrage es einfach nicht wie mein Leben gerade aus den Fugen gerät. Es war doch eigentlich alles gut. Ich leg mich auf den Teppich. Ich fühl' mich elend. Mein Gesicht brennt und ich kann einfach nicht mehr. Ich bleibe die ganze Zeit so liegen. Keine Ahnung wie lange. Irgendwann fallen mir vor Erschöpfung die Augen zu.
Donnerstag
Claire wird heute nach Norddeutschland verlegt. Mein Handy vibriert. Es ist eine Nachricht von ihr. Seit Tagen das erste Lebenszeichen. Sie schreibt, dass sie jetzt gerade im Krankenwagen ist. Plötzlich fühlt sie sich wieder greifbar an, wenn auch nur für einen ganz kurzen Moment. Ich muss sofort losheulen. Ich will ihr tausend Dinge schreiben, aber ich tue es nicht, ich will ihr keine Angst machen. Ich schreibe ihr bloß, dass ich sie liebe und dass sie bitte keinen Scheiß machen soll. Sie schreibt, dass sie uns auch lieb hat. Und das war’s. Das war meine letzte Kommunikation mit ihr.
Meine Eltern erzählen mir später, dass etwas nicht stimmt. Sie sagen mir, dass Claire träge ist. Sie scheint Sehstörungen zu haben, ihre Lippe hängt auf der einen Seite leicht nach unten. Man muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass die Wiederbelebung nicht unbeschadet an ihr vorbeigegangen ist. Ihr Bein, in dem der Schlauch steckt, würde nicht gut aussehen. Der Schlauch muss umgelegt werden, weil das Bein es nicht mehr schafft. Sie muss operiert werden.
Freitag
Heute ist die OP. Der Schlauch für die ECMO wird umgelegt, damit das Bein entlastet wird. Die OP verläuft gut.
Samstag
An die Tage von Freitag bis Samstag kann ich mich ehrlich gesagt nicht mehr richtig erinnern. Ich glaube, dass ab einem gewissen Punkt das Gehirn einfach auf Durchzug schaltet, weil man es ansonsten nicht mehr aushalten würde.
Meine Schwester ist seit der OP am Vortag nicht mehr richtig wach geworden. Sie ist benommen, schläfrig und kaum ansprechbar. Sie erzählen mir, dass sie Hirnblutungen hat.
Sonntag
Samstagnacht müssen die Ärzte notoperieren, weil meine Schwester ansonsten sterben wird. Sie müssen meiner Schwester sofort den Schädel aufschneiden, um den Druck vom Gehirn zu nehmen. Sie rasieren meiner Schwester die Haare ab. Dieses Stück, das sie von der Schädeldecke abnehmen werden, wird vorerst nicht wieder festgenäht, sondern ihr Schädel bleibt offen und wird einfach verbunden, damit die Druckentlastung vorhanden bleibt, bis das Gehirn wieder abschwillt.
Am nächsten Morgen wird klar, dass meine Schwester nicht mehr aufwachen wird, sie liegt im Koma. Eine Transplantation ist in diesem Zustand nur noch eine Wunschvorstellung . Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie sterben wird. Die Ärzte sagen, dass die Hirnschäden so groß sind, dass meine Schwester mit sehr, sehr großer Wahrscheinlichkeit bereits eine halbseitige Lähmung und eine geistige Beeinträchtigung davongetragen hat, falls sie überhaupt wieder wach werden sollte. Meine Eltern werden vor die Wahl gestellt, ob die Maschinen ausgeschaltet werden sollen. Claire hat ihnen diese Entscheidung aber im Voraus im Fall der Fälle schon abgenommen.
Von alledem, auch von der Not-OP in der Nacht, habe ich allerdings nichts mitbekommen, sondern erfahre erst was passiert ist, als ich am Mittag nach Hause komme. Zu dem Zeitpunkt ist meine Schwester bereits tot.
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