(Beitrag von 2020)
Meine Schwester war 19 Jahre alt, als bei ihr iPAH festgestellt wurde - eine seltene Form der pulmonalen Hypertonie. Claire war also 19 Jahre alt, als ihr gesagt wurde, dass sie im Schnitt nur noch 3-5 Jahre zu leben hätte. Was geht in so einem Moment in einem Menschen vor, frag ich mich. Keine Ahnung, ich habe meine Schwester nie danach gefragt. Ich fand es stand mir einfach nicht zu. Ich hätte viele Fragen gehabt, Unmengen, aber ich habe sie ihr nie gestellt. Im Nachhinein ist das eines der Dinge, die ich am meisten bereue.
Was ist Pulmonale Hypertonie?
Vorneweg alle Menschen schauen mich mit einem fragenden Blick an, wenn sie den Ausdruck pulmonal arterielle Hypertonie (kurz PAH oder PH) hören, weil sie damit überhaupt nichts anfangen können. Deshalb möchte ich im Voraus kurz darüber informieren, um welche Erkrankung es sich dabei handelt.
Hier findet ihr ein wirklich gutes Video, dass die Erkrankung verständlich erklärt und den Leidensweg der Patienten sehr gut beschreibt, wie ich finde:
Der ph e.v. schreibt zur Definition von PH:
„Pulmonale Hypertonie (PH) ist eine schwerwiegende Krankheit, bei der die Lunge und das Herz betroffen sind.
Die Blutgefäße der Lunge sind verengt, wodurch der Blutdruck in den Lungengefäßen zwischen rechter und linker Herzkammer ansteigt. Dies führt zu einer Durchblutungsstörung der Lunge, zu einer verschlechterten Sauerstoffaufnahme und zu einer zunehmenden Überlastung der rechten Herzkammer bis hin zum Herzversagen.
Menschen mit dieser Krankheit sind chronisch kurzatmig und körperlich wenig belastbar. Die Krankheit ist meist fortschreitend und kann unbehandelt zu einem frühzeitigen Tod führen. Viele Betroffene und Ärzte stehen der Krankheit völlig hilflos gegenüber. Bis vor wenigen Jahren war die Transplantation der Lunge oder von Herz und Lunge der einzige Ausweg. Heute hat diese Therapieoption einen anderen Stellenwert.
Oft werden die ersten Anzeichen der Krankheit, Luftnot bei Belastung und Müdigkeit, vom Betroffenen selbst nicht wahrgenommen, weil die Krankheit ganz schleichend beginnt. Ebenso ist die ärztliche Untersuchung häufig nicht richtungweisend, und es werden Verlegenheits-Diagnosen wie „mangelnder Trainingszustand“ oder „psychovegetative Erschöpfung“ gestellt.
Die Ursachen der Krankheit sind noch nicht gänzlich aufgeschlüsselt. Sie kann erblich auftreten und mehrere Generationen einer Familie betreffen. Deshalb muss den direkten Verwandten der Patienten besondere Aufmerksamkeit gelten. Neben dieser selteneren „primären“ Form des Lungenhochdrucks .... sog. idopathische pulmonalarterielle Hypertonie (iPAH)) tritt Lungenhochdruck häufig in Folge chronischer Lungenerkrankungen (z.B. chronische Raucherbronchitis (COPD), Lungenfibrose), bei Bindegewebserkrankungen (CREST, Sklerodermie), Lebererkrankungen, bei der HIV Infektion oder als Folge von Lungenembolien (sog. chronisch thromboembolische pulmonale Hypertonie (CTEPH)) auf.“
(weitere Infos dazu findet ihr auf:
Bisher gibt es dafür also keine Heilung, nur der Weg der Transplantation. Das Einzige was man ansonsten tun kann, ist damit zu leben und Therapien in Anspruch nehmen, die ein Fortschreiten der Krankheit möglichst weit hinauszögert. Aber als wäre das nicht schlimm genug, werden die Patienten oft mit Unverständnis überschüttet, weil die Erkrankung für Außenstehende weitestgehend unsichtbar bleibt. Das Einzige was meine Schwester verraten hat, waren ihre blassen Lippen, die wegen des Sauerstoffmangels immer blau angelaufen waren. Nach außen hat sie ein relativ normales Leben geführt, aber es war so ziemlich alles, außer normal.
Meine Schwester hat nicht einfach nur schlecht Luft bekommen, meine Schwester war in so ziemlich allem eingeschränkt. Ganz normale Dinge wie Treppensteigen oder ein Spaziergang – Hochleistungssport für meine Schwester. Bei zu schwerer körperliche Belastung wäre meine Schwester ohnmächtig geworden oder hätte im schlimmsten Fall sogar sterben können. Für sie gab es Tabletten zum Frühstück, Tabletten zu Mittag und Tabletten zum Abend. Nebenwirkungen – Dauerzustand. Eine normale Erkältung konnte lebensgefährlich für meine Schwester sein. Schwangerschaft – Unvorstellbar. Die körperliche Belastung einer Schwangerschaft, geschweige denn einer Geburt hätte sie nicht überlebt. Die Schule musste meine Schwester abbrechen, weil sie durch die Nebenwirkungen der Medikamente nicht mehr in der Lage war regulär am Unterricht teilzunehmen. Nur durch engmaschige Kontrollen in einer Spezialklinik und die regelmäßige Anpassung der Therapiemaßnahmen konnte meine Schwester noch relativ lange leben.
Das Leben meiner Schwester
Ich weiß nicht mehr, wie ich und meine Geschwister von der Diagnose erfahren haben. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass die ersten Symptome im Sommerurlaub 2004 auftraten. Dort ist uns die Kurzatmigkeit meiner Schwester zum ersten Mal aufgefallen. Gleich danach haben meine Eltern sie mehreren Ärzten vorgestellt. Wegen der unspezifischen Symptome hat es allerdings 1 Jahr gedauert bis die Diagnose überhaupt gestellt werden konnte. Zu dem Zeitpunkt befand sie sich bereits im Stadium NYHA III von IV. Das bedeutete eine starke Einschränkung der Belastbarkeit und das schon bei alltäglichen Dingen, wie Duschen oder Anziehen.
Durch die Medikation, die sie damals bekommen hat, war sie die ersten Monate zwar stabil, aber ihr Zustand hat sich darunter auch nicht verbessert. Also erklärten die Ärzte meiner Schwester und meinen Eltern, dass beim Fortschreiten der Erkrankung alle bestehenden Therapien in Erwägung gezogen werden müssen. Sollten die medikamentösen Therapiemaßnahmen nicht helfen, wäre der letzte Schritt eine Herz-, Lungentransplantation.
Ihre aktuelle Überlebenserwartung damals: 5 Jahre.
Da bleibt einem erstmal die Luft weg.
Knapp 1 Jahr nach Diagnosestellung verspürte meine Schwester zum ersten Mal Unregelmäßigkeiten an ihrem Herzen, wie Herzstolpern, Herzrasen und ein Druckgefühl in der Brust. Daraufhin hatten die Ärzte eine inhalative Behandlung mit einem anderen Medikament empfohlen. Für dieses Projekt habe ich die alten Arztbriefe meiner Schwester durchforstet und diesen Abschnitt gefunden: „Bei Unverträglichkeiten sollte dann eine i.v.-Ilomedintherapie über einen Hickman-Katheter diskutiert werden. Vor der letzteren Alternative hat die Patientin verständlicherweise Angst.“. Ein Hickman-Katheter ist quasi ein Venenkatheter, der implantiert wird, damit man einen dauerhaften Zugang hat, um die Medikation direkt in den Blutkreislauf zu geben. Ich erwähne das deshalb, weil meine Schwester damals 20 Jahre alt war. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie sie sich gefühlt haben muss. Klar, das sind Maßnahmen, die einem ja helfen sollen und im Vergleich zum Tod ist so ziemlich alles besser. Aber ich glaube als junge Frau will man einfach nicht, dass einem ein Schlauch aus dem Oberkörper raushängt. Den Katheter hat sie zum Glück nicht gebraucht, aber trotzdem. Als Außenstehender ist es immer leicht zu sagen, dass man alles tun würde, um wieder gesund zu werden oder alle Möglichkeiten in Erwägung zieht, um die möglichst beste Therapie in Anspruch zu nehmen. Aber was nehmen wir uns eigentlich raus darüber zu urteilen? Es ist keiner in der Situation des Betroffenen, keiner weiß, was in demjenigen vorgeht oder was es heißt vermeintlich harmlose Therapien in Anspruch zu nehmen. Was ist schon ein Schlauch im Vergleich zum Tod?
Wir sehen immer nur das große Ganze. Meine Schwester war so krank, dass sie gestorben ist. Ja, das ist scheiße. Aber was auch scheiße ist, ist die Angst, die sie wahrscheinlich hatte. Es ist mit Sicherheit scheiße ständig in irgendeinem Krankenhaus zu sitzen. Es ist scheiße kein normales Leben führen zu können. Es ist scheiße in allem eingeschränkt zu sein. Es ist scheiße, wenn einem ein Schlauch aus dem Körper hängt. Es ist scheiße sich jeden Tag 500 verschiedene Medikamente reinzuschieben. Es ist scheiße, wenn man gesagt bekommt, dass man sich nicht so anstellen soll oder dass man simuliert. Es ist scheiße, wenn alle anderen dich einfach nicht verstehen. Es ist scheiße, wenn man regelmäßig bei vollem Bewusstsein ein Schlauch ins Herz gesteckt bekommt. Es ist scheiße, wenn man als junge Frau mit einem Sauerstoffschlauch im Gesicht in die Öffentlichkeit muss. Es ist scheiße zu wissen, dass man krank ist. Es ist bestimmt scheiße zu wissen, dass man vielleicht bald sterben wird. Und alle anderen leben einfach weiter. Es ist einfach scheiße, dass wir das alles als Außenstehende gerne übersehen.
Aber die meisten Menschen sind so, und eigentlich ist das auch gut, weil wir es anders wahrscheinlich nicht aushalten würden. Trotzdem können wir ein bisschen mehr Verständnis zeigen. Egal wem wir begegnen, so gut wie jede Person, die du antriffst muss mit irgendeiner Scheiße klarkommen. Manche Menschen sprechen das eben offen an, manche nicht.
Wenn man das weiß, ist es irgendwie leichter den Gegenüber zu verstehen oder zumindest nicht direkt zu verurteilen.
Allein im 1. Jahr nach der Diagnosestellung war meine Schwester 12 Mal in der Spezialklinik - die, nebenbei erwähnt, nicht gerade um die Ecke ist. Also quasi alle 4 Wochen hat sie ein Krankenhaus von innen gesehen.
Die inhalative Therapie hat meine Schwester zum Glück relativ gut vertragen. Sie musste dafür 4-5 Mal pro Tag das Medikament über ein kleines Inhalationsgerät einatmen. Trotzdem stand die Frage, ob sie für eine Transplantation gelistet werden soll noch im Raum. Keine Ahnung, woher man die Kraft nimmt so eine Entscheidung treffen zu können. Damals lag bei einer Lungentransplantation die 1-Jahres-Überlebensrate bei 74%, eine 5-Jahres-Überlebensrate bei 45%. Weniger als die Hälfte der Transplantierten lebten also länger als 5 Jahre. Und es ist nicht so, dass man mit einem neuen Organ gesund ist. Man kann dadurch PH ‚heilen’, aber es gehen Unmengen anderer Probleme damit einher. Lebenslange Medikamenteneinnahme, Abstoßungsreaktionen, die ein Leben lang möglich sind. Es kommt zur erhöhten Infektionsgefahr, weil der die Körperabwehr durch die Immunsuppressiva runtergeschraubt wird. Das bedeutet man muss z.B. den Kontakt zur Tieren und größeren Menschenansammlungen meiden, Nebenwirkungen beachten, engmaschige Verlaufskontrollen durchführen etc. Natürlich ist es großartig, dass es solche Möglichkeiten überhaupt gibt und Menschen dadurch neue Chancen und oft ein neues Leben geschenkt bekommen, ganz klar. Aber es ist auch eine extrem risikoreiche Entscheidung.
Letztendlich hat sich meine Schwester für eine Listung entschieden. Somit war klar, dass jederzeit der Anruf hätte kommen könne, dass ein passendes Organ da ist. Meine Schwester wäre sofort, zu jeder Uhrzeit, mit dem Hubschrauber abgeholt, in die Klinik geflogen und direkt operiert worden. Es war nicht sicher, ob sie die Operation überhaupt überlebt hätte und es wäre keine Gelegenheit da gewesen, sich von ihr zu verabschieden.
Jedenfalls hat meine Schwester schon nach wenigen Monaten die inhalative Therapie auf eigene Entscheidung abgebrochen und sich entschieden an einer Studie teilzunehmen, bei der ihr ein Medikament verabreicht wurde, dass eigentlich zur Therapie von Leukämie eingesetzt wird, um das Wuchern von Zellen in den Lungengefäßen einzudämmen und deren Verengung zu reduzieren. Seitdem kam es aber auch zur Verschlechterung ihrer Belastbarkeit, Übelkeit und Erbrechen. Zudem hatten ihre Herzbeschwerden zugenommen. Beim Treppensteigen hat sie nur noch maximal eine halbe bis ganze Etage geschafft. Deshalb wurde Claire die Gabe von Sauerstoff empfohlen, was bedeutete, dass sie einen Sauerstoffschlauch im Gesicht tragen musste, über den sie den Sauerstoff direkt einatmen konnte. Außerdem musste sie die inhalative Therapie mit Ventavis wieder fortsetzen.
Durch die Verschlechterung ihres Zustandes musste meine Schwester die Schule abbrechen. Immer öfter bekam sie einfach so blaue Flecken. Auf der Transplantationsliste wurde sie schließlich auf nicht transplantabel gestuft.
Ob die Übelkeit und das Erbrechen von dem Studienmedikament oder von den Herzrhythmusstörungen kamen, konnte man nicht genau sagen, weil unbekannt war, ob meine Schwester über die Studie tatsächlich das Glivec bekommt oder ein Placebo (also ein Medikament, dass eigentlich gar keine Wirkung hat, um festzustellen, ob der Placeboeffekt wirkt).
Mit der Zeit verbesserte sich ihr Zustand unter der Studie aber wieder - sogar so gut, dass sie in eine bessere Stufe eingeordnet werden konnte (NYHA II). Abgesehen von der Übelkeit hatten sich ihre Beschwerden deutlich verringert. Im September 2008 konnte sie die Abendschule besuchen, um ihren Abschluss nachzuholen. 2011 ging es ihr so gut, dass sie ihre Ausbildung anfangen konnte. Seitdem war Claire eigentlich immer relativ stabil, abgesehen von immer mal wieder auftretenden Lungeninfekten. Für ein paar Jahre fühlte sich die Welt einfach mal relativ okay an.
Doch 2013 verschlechterte sich ihr Zustand zunehmend. Deshalb hat sie 2014 eine dauerhafte Medikamentenpumpe bekommen. Damit konnte ihrem Körper ohne Zutun regelmäßig ein Medikament verabreicht werden. Alle paar Wochen musste sie sich dafür selbst die Nadel in die andere Bauchhälfte stechen. Ihr Bauch war deshalb schon komplett blau unterlaufen.
Meine Schwester hat ihr Schicksal wirklich immer mit einer Fassung und einem Humor getragen, über die ich bis heute noch immer nur staunen kann. Aber diese Pumpe hat sie glaube ich wirklich gehasst, weil sie sie rund um die Uhr daran erinnert hat, dass sie krank ist. Und ich glaube für sie war das der Zeitpunkt, an dem sie angefangen hat den Mut zu verlieren, auch wenn sie das nie ausgesprochen hätte. Für mich war das der Zeitpunkt, an dem ich angefangen habe zu begreifen, wie krank meine Schwester eigentlich wirklich ist. Mit der Pumpe ging es meiner Schwester zunehmend schlechter. Immer öfter musste sie sich wegen des Medikamentes übergeben und konnte nichts mehr bei sich behalten, die orale Medikation miteingeschlossen. Aber eine andere Therapiemöglichkeit gab es im Prinzip nicht mehr. Der nächste Schritt wäre eine Transplantation gewesen. Das Problem war, dass sich der Zustand bei meiner Schwester so rapide verschlechtert hat, dass alles zu spät kam. Zudem beträgt die Wartezeit für eine Lungenspende im Schnitt 12-36 Monate, außer man wird als dringlich eingestuft. Meine Schwester wurde auch wieder auf die Liste gesetzt - als dringlich. Aber als die Zusage kam, dass sie gelistet ist, war sie schon seit einem Tag tot. In dem Zustand in dem sie am Ende war, hätte sie eine Transplantation aber wahrscheinlich sowieso niemals überlebt. Letztlich ist meine Schwester am 1. Juni 2014 gestorben – 9 Jahre nach Stellen der Diagnose.
Ich schätze das Einzige, was meine Schwester wollte war ein ganz normales Leben. Keine waghalsigen Abenteuer, einfach ein ganz normales Leben. Sie hat sich diese Krankheit nie anmerken lassen und sie so gut es geht vor anderen versteckt. Ich glaube das war auch der Grund, weshalb alle um sie herum so geschockt waren, als meine Schwester gestorben ist – mir inklusive. Für sie wäre es glaube ich einfach erniedrigend gewesen offen zeigen zu müssen, dass sie krank ist. Vielleicht war es auch Selbstschutz und sie wollte nicht bemitleidet werden, weil das die Tatsache, dass sie vielleicht bald sterben wird noch viel realer gemacht hätte. Jedenfalls war meine Schwester mit Abstand der mutigste Mensch, dem ich jemals begegnet bin. Kein einziges Mal, wirklich nicht auch nur einmal, hat meine Schwester sich in meiner Gegenwart über ihre Situation beschwert und niemals auch nur einen Funken Angst gezeigt.
Mir hat mal jemand erzählt, dass sie gesagt hat, sie sei froh, dass es sie selbst getroffen hat und nicht eines ihrer Geschwister. Und das beschreibt so gut, was für ein Mensch meine Schwester war.
Meine Schwester und ich
Meine Schwester war ein besonderer Mensch. Ich weiß, das sagen wohl die meisten Menschen, die jemanden verloren haben, der ihnen viel bedeutet hat. Aber ich glaube Claire war wirklich außergewöhnlich.
Ich konnte meiner Schwester alles erzählen, aber über ihre Erkrankung habe ich mit ihr so gut wie nie gesprochen. Bei der Thematik waren wir irgendwie verhalten.
Ich denke, dass ich das Thema die ganze Zeit verdrängt habe, so lange, wie es eben ging, so lange, bis sie tatsächlich gestorben ist. Für mich war es bis zum Ende schlichtweg unvorstellbar, dass meine Schwester sterben könnte, dass sie einfach nicht mehr da sein wird.
Wenn ich über den Tag schreibe, an dem ich meine Schwester das letzte Mal gesehen habe, hört sich das irgendwie an, wie aus einem schlechten Film.
Weil es ihr nicht gut ging, wollte sie das Wochenende bei unseren Eltern verbringen. Also bin ich nach der Arbeit zu ihr, um sie abzuholen. Ich erinnere mich noch daran, wie sie vor mir im Wohnzimmer umherwuselt und ihre Sachen zusammenpackt. Ich erinnere mich noch daran, wie sie alle drei Schritte stehen bleibt und sich irgendwo abstützt, um Luft zu holen. Ich erinnere mich, wie sie vor der Balkontür steht, die Hand an die Stirn legt, sich ihr wildes Pony aus dem Gesicht streift und ihre Hand in der Seite abstützt. Ich erinnere mich wie sie ihre blauen Jeans hochzieht, die ihr mittlerweile locker um die Hüfte liegen. Sie hat so arg abgenommen, denk ich mir in dem Moment. Ich erinnere mich, dass ich sie während der Autofahrt gefragt habe, ob sie am Wochenende Lust auf einen Spieleabend hätte. Sie antwortete müde, dass sie aktuell einfach nicht fit genug sei. Sie wirkte damals unendlich erschöpft. Das war eine Woche bevor sie gestorben ist.
Bei unseren Eltern angekommen, haben wir zusammen zu Mittag gegessen. Es war Ende Mai und draußen wurde es langsam wärmer. Es war sonnig, das weiß ich noch.
Ich saß neben Claire auf der Couch und ihr wurde schlecht. Das war mittlerweile Standard seit sie die Medikamentenpumpe bekommen hat. Ich glaube unsere Mutter brachte ihr einen Eimer, ich weiß nicht mehr genau. Und dann war da dieser Moment. Meine Schwester nahm den Eimer in die Hand und musste würgen. Sie saß neben mir, atmete schwer und schaute immer wieder keuchend aber ruhig durch den Raum. Aber sie tat das mit so einer Selbstverständlichkeit und Routine, dass es mich einfach nur geschockt hat. Sie hat mich kein einziges Mal angesehen, ich glaube es war aus Scham. Und plötzlich kam ich mir unendlich hilflos vor. Dann musste sie sich übergeben und das erste Mal wirkte sie einfach richtig schwer krank auf mich, weil mir klar wurde, dass das aktuell ihr täglicher Zustand ist und ihr Körper gerade dabei ist komplett zu rebellieren. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Das war das erste Mal, dass ich die Krankheit meiner Schwester so offensichtlich vor meinen Augen hatte und sehen konnte, was sie mit ihr macht. Keine Ahnung wieso das gerade dieser Moment war und wieso ausgerechnet am letzten Tag. Ich habe meine Schwester so oft mit dem Sauerstoffschlauch im Gesicht gesehen oder mit ihrer Pumpe am Bauch. Ich glaube in dem Moment hat meine Schwester das erste Mal vor mir die Kontrolle verloren. Und dann spürte ich unfassbares Mitleid. Einfach pures Mitleid. Es hat mir richtig wehgetan. Es war so richtig furchtbar. Alles was ich dann tun konnte war meine Hand auf ihren Rücken zu legen und warten bis es vorbei ist. Keiner von uns hat ein Wort gesagt, das hat es irgendwie nicht gebraucht. Danach hat sie sich hingelegt und geschlafen.
Später am Tag war ich mit meinen Geschwistern und meiner Mutter im Garten, als ich auf die Uhr starrte und bemerkte, dass ich gehen muss. Ich verabschiedete mich kurz und lief die zwei Steinstufen runter, die zur Gartentür führen. Durch die Fensterfront sah ich die Couch, auf der noch immer meine Schwester lag. Ich konnte sie nicht sehen, nur ihre Füße die am Ende der Couch unter der Decke rausspitzelten. Das war der letzte Moment.
Eine winzige Millisekunde habe ich innegehalten und überlegt nochmal reinzugehen. Aber stattdessen habe ich im Vorbeigehen nur leise reingerufen: „Tschüss, Claire!“.
Ich hatte ja keine Ahnung, dass das das letzte Mal sein würde.
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